Wenn man als Erstsemester an eine Hochschule kommt, begegnet man enorm vielen neuen Menschen, die alle mit ihrem ganz eigenen Hintergrund ausgestattet sind. Eine dieser Begegnungen möchte ich heute ein klein wenig vorstellen.
Ronja Fastner studiert mit mir im Master DSKI, aber sie hat ein Vorleben und das birgt einige nicht alltägliche Besonderheiten. Doch fragen wir sie selbst.

Hi Ronja, erzähl doch mal – wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, nach Spitzbergen zu gehen?
Während meines Studiums Leisure and Tourism Management an der Hochschule Stralsund habe ich ein Praktikum als Guide in Schweden gemacht. Das hat in mir den Wunsch geweckt, noch mehr über das Guiden und den professionellen Umgang mit Gästen in der Natur zu lernen. Danach habe ich in Norwegen „Friluftsliv“ studiert – das bedeutet so viel wie „Outdoorleben“. Es geht dabei um das bewusste Erleben von Natur, das einfache Leben draußen und das respektvolle Miteinander zwischen Mensch und Umwelt.
Nach diesem Studium wollte ich noch einen Schritt weitergehen und bin so auf das einjährige Studium zum Arctic Nature Guide an der University Centre in Svalbard (UNIS) gestoßen. Die Idee, mitten in der Arktis zu leben, mit monatelanger Dunkelheit und unendlicher Helligkeit, hat mich sofort fasziniert.
Spitzbergen klingt so weit weg – wo liegt das genau?
Spitzbergen, oder auf Norwegisch Svalbard, ist eine Inselgruppe, die zu Norwegen gehört, aber durch den sogenannten Svalbard-Vertrag verwaltet wird. Die Hauptstadt Longyearbyen ist eine kleine, internationale Gemeinschaft mit rund 2500 Einwohnern aus über 50 Nationen – ein faszinierender Mikrokosmos am Ende der Welt. Es ist die letzte Siedlung vor dem Nordpol und liegt auf 78° Nord. Der Ort darf nur mit einer Waffe verlassen werden, um sich im Notfall vor den Eisbären verteidigen zu können.
Die Häuser stehen auf Stelzen, weil der Boden dauerhaft gefroren ist – Permafrost. Es gibt (fast) keine Keller, und es ist tatsächlich verboten, auf Svalbard zu sterben, weil der Boden alles wieder an die Oberfläche transportiert.
Und ein spannendes Detail: Man zieht überall die Schuhe aus, bevor man ein Gebäude betritt. Das stammt aus der alten Bergbauzeit – damals wollte man den Kohlenstaub draußen lassen. Heute ist es einfach praktisch, weil es oft matschig, nass oder schneereich ist.





Wie sieht so ein Tag bei dir eigentlich aus, wenn du in Longyearbyen bist?
Während des Studiums waren wir unglaublich viel draußen unterwegs – auf Expeditionen zu Fuß, auf Skiern oder mit dem Schneemobil. In der Dunkelzeit hatten wir viele theoretische Module: Outdoor-Erste-Hilfe, Lawinenkunde, Gletscher- und Meereissicherheit. Sobald ich später als Guide gearbeitet habe, war jeder Tag anders.
Ein typischer Tag, an dem es hinaus in die Wildnis geht, startet immer mit denselben Routinen. Zuerst checke ich die aktuellen Wetter-, Lawinen- und Meereisberichte – das ist die Grundlage für jede Entscheidung. Danach bereite ich die Sicherheitsausrüstung vor: die Signalpistole und das Gewehr, die im Notfall Leben retten können. In den Rucksack kommen Erste-Hilfe-Kit, GPS, Satellitentelefon und das InReach-Gerät – außerhalb von Longyearbyen gibt es (fast überfall) kein Handynetz, und diese Geräte sind unsere einzige Verbindung zur Außenwelt. Bevor wir losziehen, tauschen wir Guides noch aktuelle Informationen aus: Wo wurden zuletzt Eisbären gesehen? Wie sind Windrichtung und Wellen? Diese Absprachen sind entscheidend – in der Arktis kann sich die Situation innerhalb von Minuten ändern.
Das Wichtigste aber: Die Natur bestimmt hier den Tagesablauf. Wenn ein Schneesturm tobt, bleibt man im Ort. Wenn ein Eisbär gesichtet wird, muss eine ganze Expedition umgeplant werden. Sicherheit geht immer vor!
Wie läuft das mit der Ausbildung und der Eisbärensicherheit?
Das Studium zum Arctic Nature Guide an der UNIS ist einzigartig. Es kombiniert theoretisches Wissen mit extrem viel Praxis. Wir hatten Vorlesungen zu Gruppenführung, Risikomanagement und Kommunikation – aber das eigentliche Lernen fand draußen statt, auf Expeditionen über Gletscher, durch Schneestürme oder über das Meereis.
Eisbärensicherheit ist dabei ein zentrales Thema. Wir trainierten regelmäßig auf dem Schießstand, besprachen reale Fallbeispiele und hatten klare Sicherheitsprotokolle. Beim Zelten bedeutet das zum Beispiel: Es gibt immer eine Wache und jeder übernimmt auch nachts ein bis zwei Stunden Schicht.
Ich selbst habe sieben Eisbären gesehen, aber musste nie schießen – und das ist auch das Ziel. Wir lernen, Distanz zu halten, und greifen erst im äußersten Notfall zum Gewehr. Zuerst versucht man, sich zurückzuziehen, dann kommt die Signalpistole, die einen lauten Knall macht – und erst danach, wenn gar nichts mehr hilft, das Gewehr.
Ein Erlebnis hat sich mir besonders eingeprägt: Wir waren im Rahmen eines Gletscherkurs campen, als nachts eine Eisbärenmama mit ihrem Jungen auftauchte. Sie fand etwa 600 Meter entfernt ein totes Rentier – und wir haben drei Tage lang in Sichtweite dieser kleinen Familie gelebt.










Wie ist es, mit der Kälte und Dunkelheit zu leben?
Die Kälte ist an sich gar nicht so schlimm – sie ist trocken, und mit genügend Kleidungsschichten hält man das gut aus. Gefährlich wird es, wenn Sturm dazukommt, weil die gefühlte Temperatur dann extrem sinkt. In Notfallsituationen ist Wärme überlebenswichtig. Während meiner Zeit musst ich mich auch um einige Erfrierungen kümmern und habe selber erfahren, wie sich eine Unterkühlung anfühlt.
Ich musste lernen, völlig anders zu denken – denn hier oben gefriert einfach alles. Mahlzeiten müssen so geplant sein, dass sie sich mit heißem Wasser zubereiten lassen oder gekocht werden können, Trinkwasser transportiert man in Thermosflaschen, und elektronische Geräte trägt man dicht am Körper, damit die Batterien nicht einfrieren. Alles wird zur kleinen Wissenschaft des Überlebens. Und eines meiner liebsten Learnings: Schokolade schmeckt bei minus 20 Grad besonders gut!
Von Ende Oktober bis Mitte Februar geht die Sonne gar nicht mehr auf. Besonders im November und Dezember, wenn noch wenig Schnee liegt, ist es wirklich schwer. Viele Menschen kämpfen in dieser Zeit mit Müdigkeit und depressiven Verstimmungen. Dafür ist sind die Übergangszeiten besonders schön, mit sanften Lilatönen und blauem Licht. Und dann kommt der Sommer – mit Mitternachtssonne rund um die Uhr. Die Sonne geht einfach nicht mehr unter, und man hat ständig das Gefühl, man müsste etwas unternehmen, weil es nie Abend wird.
Was in der Dunkelzeit hilft, sind Gemeinschaft und Struktur. Freunde, gemeinsame Spieleabende, Geschichten erzählen, Klettern, Schwimmen, ins Kino oder Café gehen – und gegenseitig aufeinander achten. Die Gemeinschaft dort oben ist unglaublich stark – jeder hilft jedem.
Wie ist das mit den Touristen sonst so?
In Longyearbyen werden Haustüren und Autos grundsätzlich nicht abgeschlossen – falls einmal ein Eisbär in den Ort kommt, muss man schnell Schutz finden können. Außerdem vertraut hier jeder jedem. Es gibt nur rund 40 Kilometer Straßen, da hat Autodiebstahl ohnehin wenig Sinn. Manche Touristen verstehen das aber nicht. Es kam tatsächlich schon vor, dass Leute einfach in Häuser reingegangen sind, weil sie „sehen wollten, wie man hier lebt“. Dabei führen wir ein ganz normales Leben – wir sind keine Attraktion.
Im Sommer legen Kreuzfahrtschiffe mit über 3000 Gästen an. Dann fühlt sich das Dorf plötzlich überlaufen an. Viele Einheimische bleiben an solchen Tagen lieber zuhause. Ich wurde oft ungefragt fotografiert, wenn ich mit Ski und Waffe durch den Ort gelaufen bin. Aber gleichzeitig ist der Tourismus heute der wichtigste Wirtschaftszweig, seit die letzte norwegische Mine 2025 geschlossen wurde.
Das Leben hier oben muss logistisch ja der Wahnsinn sein – alles importiert, oder?
Ja, alles! Von Lebensmitteln über Baumaterialien bis hin zum Treibstoff. Früher bauten die Menschen ihre Hütten aus angeschwemmtem Treibholz. Heute hängt das ganze Leben von Lieferungen ab – per Schiff oder Flugzeug. Im Winter kam es vor, dass wir tagelang keine frischen Lebensmittel hatten, weil durch einen Schneesturm keine Schiffe anlegen oder Flugzeuge landen konnten. Der Strom kommt von einem Generator, der wöchentlich mit Treibstoff versorgt werden muss. Fällt der Strom länger als zwei Tage aus, müsste der gesamte Ort evakuiert werden.
Die Abhängigkeit von dieser Versorgung spürt man jeden Tag – sie ist Teil des Lebens in der Arktis.
Was ist für dich das Schönste – und das Schwerste am Leben dort?
Das Schönste war für mich ganz eindeutig die Freiheit und die Natur. Diese Weite und die Stille, das ist einfach unbeschreiblich. Ich konnte einfach losziehen, mit Ski, Schneemobil oder zu Fuß, und wusste: Vor mir liegt nichts als Natur. Keine Zäune, keine Straßen, keine Grenzen. Dieses Gefühl von Freiheit ist unbezahlbar – und genau das macht das Leben dort auch so intensiv.
Aber diese Freiheit hat ihren Preis. Sie bedeutet auch Abgeschiedenheit, Isolation, Verantwortung. Man ist auf einer Insel mitten im arktischen Ozean, abhängig von Technik, vom Wetter und von der eigenen Vorbereitung. Ein Fehler, eine falsche Entscheidung und man steht alleine da.
Und wie siehst du die Zukunft von Spitzbergen?
Ich sehe sie ehrlich gesagt sehr zwiespältig. Auf der einen Seite ist Spitzbergen ein faszinierender Ort, an dem Forschung, Natur und internationales Zusammenleben auf einzigartige Weise zusammenkommen. Auf der anderen Seite wächst der Tourismus jedes Jahr – und das in einer der empfindlichsten Regionen unserer Erde.
Viele Menschen reisen hierher, um die Gletscher zu sehen, bevor sie verschwinden. Aber genau dadurch tragen sie dazu bei, dass dieser Prozess sich beschleunigt. Das ist ein Widerspruch, den ich schwer aushalten kann – vor allem, weil ich auf Svalbard erlebt habe, wie schnell die Natur sich verändert.
Ich wünsche mir, dass Spitzbergen nicht zu einem Freilichtmuseum wird, das man nur noch „besucht“. Es sollte ein Ort bleiben, an dem man lernt, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst und für die Natur. Als Guides sehen wir uns nicht nur als Wegbegleiter, sondern wollen die Natur den Gästen näherbringen. Wir zeigen Menschen nicht einfach, wo sie sind, sondern warum dieser Ort so schützenswert ist.
Spitzbergen ist einzigartig – und genau deshalb sollten wir alles daransetzen, dass es so bleibt.
Und wie kommt es, dass Du jetzt im DSKI-Master gelandet bis?
Ich wollte einfach nochmal etwas völlig Neues ausprobieren. Das Leben als Guide, draußen in der Natur, mit Menschen zu arbeiten, finde ich nach wie vor super. Aber ich habe gemerkt, dass ich mir auf lange Sicht noch eine zweite Perspektive wünsche. Etwas, das mich auch auf eine andere Weise herausfordert. So bin ich bei DSKI gelandet.
Vielen Dank Ronja für diesen Einblick in eine doch ganz andere Welt.
